Auf die Dosis Neuanfang kommt es an!

09.01.2018

Stirböck-Neujahrsbrief

In einem Brief an die Parteimitglieder spannt FDP-Fraktionsvorsitzender Oliver Stirböck einen Bogen von der Bundespolitik zur Kommunalpolitik. Dabei sieht er die Koalition in Offenbach als gut funktionierendes Beispiel, aber nicht als Vorbild für Wiesbaden und Berlin. Der Brief im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Hinter uns liegt politisch für die Freien Demokraten ein gutes Jahr. Neben Konservativismus und der Sozialdemokratie ist die dritte klassische geistesgeschichtliche Strömung, der Liberalismus, wieder im Deutschen Bundestag vertreten. Bundestagsfraktion und Bundespartei haben sich in einer Abwägung für die Option Opposition entschieden, weil die Dosis an „Neuanfang“ zu gering war.  Die Haltung der Bundeskanzlerin „ich sehe nicht, was wir anders machen sollten“ (Merkel) ist nach 12 Jahren Kanzlerschaft verständlich. Sie erinnert mich an unsere gescheiterten Koalitionssondierungen in Offenbach vor knapp zwei Jahren mit der SPD, einer Partei, die in unserer Stadt 60 von 70 Jahren regierte und ähnlich selbstzufrieden und veränderungsavers auftrat. Dieses „Weiter so“ der Kanzlerin traf auf eine FDP, die angetreten war, um zu verändern – und nicht nur, um zu regieren. Oder um es mit dem Vordenker der Grünen, Ralf Fücks, auszudrücken: „Die FDP will mehr Marktwirtschaft, Entbürokratisierung, Steuersenkung und in der Energiewende weg von einem dirigistischen Ansatz – darüber gab es keine ernsthafte Auseinandersetzung. Man hat unterschätzt, dass es denen damit ernst sein könnte“.

Erhalten wir uns unsere Eigenständigkeit – in Berlin und Offenbach!

Die Kanzlerin dachte wohl, es reiche den Grünen entgegenzukommen. Dieses Verständnis, die FDP habe irgendwie vor der „großen“ Union klein beizugeben, haben wir auch bei unseren lokalen Christdemokraten immer mal erspürt. Zwar ist die Offenbacher CDU selbstverständlich offen gegenüber Koalitionen mit Sozialdemokraten und Grünen und keineswegs festgelegt auf die FDP. Von der FDP erwartete man dagegen oftmals Nibelungentreue. Und reagierte verschnupft, wenn sich Freie Demokraten etwa koalitionspolitisch eigenständig zeigten (Ampel) oder sich vom als etwas zu grobschlächtig empfundenen Auftreten der Union abgrenzten. Alles spricht dafür, dass wir uns diese Eigenständigkeit in Stil und Handeln erhalten. In der Stadt, im Land und in Berlin.

In der Vergangenheit wurde die FDP von politischen Kommentatoren oft als „Umfallerpartei“ etikettiert. Es ist schon bemerkenswert, dass häufig die selben Beobachter nun die Standhaftigkeit der FDP kritisieren. Wenn man es ohnehin nicht recht machen kann, muss man erst recht das tun, was man für richtig hält.

Die Offenbacher Koalition ist kein Vorbild, aber ein Beispiel

Auch wenn es in Berlin einfach nicht passte, müssen Freie Demokraten beweisen, dass sie sich zum Regieren nicht zu fein sind. Wir zeigen dies mit Jamaika in Schleswig-Holstein, der Ampel in Rheinland-Pfalz und auf lokaler Ebene etwa in Offenbach in der Koalition mit CDU, Grünen und FW. Grundsätzlich gilt im Sechs-Parteiensystem: Wunsch-Koalitionen sind ein Luxus. Wenn die FDP nicht zur Partei der institutionalisierten Opposition werden will, muss sie ihre teilweise schon pathologische Abneigung gegenüber den Grünen ablegen und sich auch emotional für Koalitionen mit den Grünen öffnen. Auch wenn ich den mir oft zu paternalistischen Politikansatz der Grünen nicht teile und ihre moralische Überheblichkeit als anstrengend empfinde, habe ich jedenfalls Respekt vor einer Partei, die ebenfalls noch Grundsätze hat. Ich würde die Offenbacher Koalition nicht als Vorbild oder gar Blaupause für Wiesbaden und Berlin sehen. Aber sie ist ein Beispiel, dass es funktionieren kann. Ebenso wie die damalige Ampelkoalition, die seinerzeit vom Wähler bestätigt wurde, aber dann nicht mehr in die persönlichen Ambitionen der Grünen-Protagonisten passte. In einem freidemokratischen Fundamentalismus liegt kein Segen für das Land. Nur wer gut regiert, kann auch bewegen.

Wir haben Neues auf den Weg gebracht

In den nun knapp zwei Jahren unserer Regierungszeit haben wir in Offenbach, gemeinsam viel Neues auf den Weg gebracht:

·         Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing werden neu aufgestellt und erhalten größere Budgets. Eine bessere Anbindung der östlichen Gewerbegebiete vom Süden her (B448) wurde in Auftrag gegeben. Damit unsere Stadt erfolgreicher neue Unternehmen ansiedeln kann.

·         Deutlich mehr neue Wohnbaugebiete wurden von der Stadtverordnetenversammlung beschlossen. Damit wir eine ausgewogenere Bevölkerungsstruktur erreichen können.

·         Das Parlament beschloss auf unsere Anregung hin einen „Masterplan“ Einzelhandel. Die bessere Anbindung der Innenstadt durch Busse und Individualverkehr ist ebenso „durch“. Damit Offenbach als Einzelhandelsstandort wieder attraktiv wird.

·         Schuldezernent und Kämmerer haben das Schulbauprogramm den Realitäten der wachsenden Stadt angepasst. Damit wir die richtigen Prioritäten setzen können.

·         Sauberkeit und Sicherheit erhalten nun eine hohe Bedeutung: das gilt etwa für unsere Idee einer Stabsstelle „Sauberes Offenbach“ nach Frankfurter Vorbild ebenso wie für unsere Programmforderung nach einem Freiwilligen Polizeidienst. Damit sich die Menschen sicherer fühlen können und das Stadtbild attraktiver wird.

Dieses sind alles Punkte, zu denen die Vorgängerkoalition keine Kraft mehr hatte, die aber geeignet sind, die Wachstumsdynamik der Stadt zu verstärken und das Image der Stadt zu verbessern.

Für unsere Koalitionsarbeit haben wir Freien Demokraten seinerzeit die Überschrift vom „Neuanfang“ geprägt. Aber es wäre ungeschichtlich, wenn man – wie der eine oder andere – darunter verstünde, vorher war alles schlecht und jetzt ist alles gut. Wer etwa das vom Parlament beschlossene Sanierungskonzept des Kämmerers Peter Freier (CDU) aufmerksam liest, erkennt jedenfalls an zahlreichen Stellen, welche richtigen Schritte auch schon unsere Vorgänger eingeleitet haben. Insofern ist das Konzept auch ein Mahnmal gegenüber zu viel Selbstgerechtigkeit.

Wir sind zur Zusammenarbeit verdammt

Eine Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung bedeutet nicht, auch eine gesellschaftliche Mehrheit für alle Projekte zu haben. Das hat uns allen spätestens die Oberbürgermeisterwahl gelehrt. Die Freien Demokraten haben von drei respektablen Kandidaten Peter Freier unterstützt. Bei ihm sahen wir am stärksten die erforderliche Qualität, überlegte Entscheidungen für die Zukunft unsere Stadt zu treffen. Die Wähler haben dies anders bewertet. Ich habe dafür drei Gründe: Der Kandidat der SPD erfüllte stärker den Wunsch der Wähler nach einer Art „Offenbacher Macron“. Rückmeldungen von Bürgern zeigen mir zudem, dass nicht der CDU-Kandidat selbst, aber die Offenbacher Union insgesamt als zu polarisierend auftretend gesehen wird und der Unionskandidat auch deshalb kaum über das Milieu der hartgesottensten Union-Fans hinausgekommen ist. Das ist aber alles Sache der Union. Für die Koalition relevant erscheint mir ein dritter Grund: Als Koalition haben wir insgesamt unsere neuen Ansätze nicht ausreichend nach draußen vermittelt. Unnötiges Fingerhakeln mit dem Oberbürgermeister hat inhaltliche Erfolge überdeckt. Weite Teile der jüngsten Haushaltsrede des Offenbacher CDU-Fraktionsvorsitzenden Roland Walter haben die Freien Demokraten daher mit großem Wohlwollen verfolgt. Aus ihr nehmen wir mit seine Ankündigung, eine konstruktive Rolle gegenüber dem neu gewählten Oberbürgermeister einnehmen zu wollen. Für uns Freie Demokraten ist klar: wir brauchen keine Kraftproben zwischen Koalitions-Mehrheit und SPD-OB. Die Hessische Gemeindeordnung regelt die Befugnisse von Parlament, Magistrat und OB exakt. Darüber hinaus sind wir zu einem guten Austausch und guter Zusammenarbeit verdammt. Das wird der Koalition nutzen, vor allem aber unserer Stadt.

Keine Politik für Interessengruppen

Die sicherlich anstrengendste Geburt des vergangenen Jahres war der Beschluss über den Marktplatz. Er ist ein Lehrstück dafür, was passieren kann, wenn man die oft widersprüchlichen Positionen einzelner Beteiligter verabsolutiert, sich damit im Geflecht der Interessensgruppen verirrt und seinen Plan verliert. Es ist im Übrigen ein Irrglauben, der Wähler honorierte dies: Die Summe von Einzelinteressen ergibt kein politisches Konzept und keine Mehrheit. Die Freien Demokraten haben mit Hinweis auf die Formulierung des Koalitionsvertrags immer deutlich gemacht, dass der Umbau des Marktplatzes für die Koalition zu den zentralen städtebaulichen Maßnahmen gehört. Zwischenzeitlich waren wir innerhalb der Koalition die letzten, die noch an dem Projekt festhielten. Es ist zu einem Gutteil der Beharrlichkeit, aber auch der Kompromissfähigkeit des Offenbacher Oberbürgermeisters zu verdanken, dass es am Ende zu einer breit getragenen Lösung gekommen ist. Diese sieht aus unserer Sicht einen guten Kompromiss zwischen Gestaltung, Erreichbarkeit der Innenstadt mit Auto und Bus sowie Kosten des Projekts vor. Die Koalitionspartner haben nach vielen Diskussionen den nötigen Pragmatismus bewiesen.

Die Zukunft Offenbachs – Stadt mit Chancen – Stadtmauern in den Köpfen überwinden

Die Zeit um einen Jahreswechsel herum ist aber auch Zeit, etwas grundsätzlicher nachzudenken über die Zukunft unserer Stadt. Ich sehe eine Stadt mit großen Chancen, inmitten des Rhein-Main-Gebiets, einer der wirtschaftlich stärksten Regionen Europas. Offenbach wird wachsen. Wir sollten bei der Entwicklung von Neubaugebieten auf qualitatives Wachstum setzen. Verdichtung in der Innenstadt ist keine Bedrohung, sondern eine Chance: überdurchschnittliche Bauqualität und Architektur steigert Lebensqualität und sorgt für eine gesündere Balance im Bevölkerungsmix. Es kommt nicht auf die Quantität des öffentlichen Raums an, sondern auf dessen Qualität: Deshalb müssen wir im öffentlichen Raum hochwertige grüne Nischen und Aufenthaltsqualität schaffen.

Der Glaube, das Wachstum des Mobilitätsbedürfnisses im dicht besiedelten Ballungsraum allein mit einer Optimierung des klassischen Individualverkehrs lösen zu können, ist eine Lebenslüge. Das Zeitalter selbstfahrender Autos wird kommen und den in Ballungsräumen immer massiveren Trend zum Carsharing verstärken. Möglicherweise löst dies langfristig auch Parkplatzprobleme. Die Region insgesamt braucht aber vor allem eine bessere Vernetzung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Und ich bleibe in diesem Zusammenhang dabei: Nur wenn man in der Logik tradierter Stadtmauern denkt, kann man es für sinnvoll halten, dass die Linie 16 ausgerechnet am Dreieichpark endet. Verkehrs- und netzökonomisch ist dies kaum lösungsadäquat. Wir müssen daher besonders in der Verkehrspolitik die Stadtmauern in den Köpfen überwinden. Und auch die politischen Grenzen. Eine Initiative der Offenbacher SPD-Fraktion hat hier im September einige bekannte Ideen und Vorschläge zu ÖPNV-Potenzialen zwischen Frankfurt und Offenbach gesammelt. Wir wären gut beraten, sie positiv aufnehmen und gemeinsam einen Katalog entwickeln, mit dem wir gemeinsam regional- und landespolitisch in unseren Parteien werben.

Aber auch über die Verkehrspolitik hinaus, sollten wir Stadtmauern einreißen und unser politisches Wirken der vernetzten Lebenswirklichkeit der Menschen anpassen. Dazu gehört meines Erachtens auch ein echtes Regionalparlament mit einem sichtbaren Regionalpräsidenten, der unserer glücklicherweise polyzentrischen Region ein Gesicht gibt und Identität schafft. Jedenfalls sollten wir die mittelalterlichen Strukturen und Denkweisen in interkommunaler Zusammenarbeit überwinden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen der Stadtverordnetenfraktion ein frohes, neues 2018!

Ihr

Oliver Stirböck